Dein Kind hat einen diagnostizierten und attestierten Förderschwerpunkt. Schon dahinter steckt eine umstrittene Entscheidung. "Willst du das wirklich tun? Dann ist es abgestempelt - für immer!" Nein, das ist es nicht. Ein Förderbedarf kann in jedem Schuljahr aufgehoben werden, wenn er nicht mehr besteht, und JETZT braucht das Kind Hilfe. Allein, dass es nun von der Benotung ausgenommen ist, die ihm immer nur sein Versagen, seinen Mangel, seine Defifizite bescheinigt hat, ist eine riesige Entlastung. Pädagogik heißt doch: Das Beste fürs Kind - und nicht: Was passiert in den Köpfen der Umgebung? Wie kommen sie mit ihren (Vor-)Urteilen klar?
Dann begegnet deinem Kind nach dem Wechsel zur weiterführenden Schule im Gemeinsamen Lernen ein Förderpädagoge, der fantastisch ist. Verständnisvoll, witzig, empathisch, und die Chemie zwischen ihm und deinem Kind passt perfekt. Seine Stunden sind zwar knapp gerechnet - Oberste Priorität im deutschen Schulsystem hat das Sparen!!! -, aber er begleitet und unterstützt dein Kind hervorragend. Pädagogik heißt ja: Wissenschaft von der Erziehung und Bildung, und hier kommt sie wunderbar zum Einsatz.
Zu den Aufgaben des Förderpädagogen gehört es auch, zu Beginn eines jeden Schuljahres die Fachlehrer:innen über die Kinder mit Förderschwerpunkten in den Klassen zu informieren. Er stellt Diagnosen vor (z.B. eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, einen Sehfehler, eine Autismusspektrumsstörung, FASD, ADHS...) und klärt über Konsequenzen (z.B. bestimmter Sitzplatz, differenziertes Arbeitsmaterial., anderer Bewertungskatalog..) und vereinbarte Maßnahmen (z.B. keine Hausaufgaben, Förderstunden außerhalb des Klassenverbandes...) auf. Dann beginnt der Alltag.
Dein Kind kommt nach Hause mit einer Note unter der ersten Klassenarbeit im Technik-Kurs. Es hatte den Mut, selbst für sein Recht einzustehen und den Lehrer vor Abgabe der Arbeit noch mit dem Hinweis "Ich bekomme keine Noten. Nur einen kurzen Text." an sein Sonderrecht erinnert. Neben diesem Satz steht im gleichen Rot wie die Note in Ziffer und Wort noch ein Ausrufezeichen, das dein Unverständnis noch ins Unermessliche potenziert. Hat der Lehrer abgesehen von seinem eigenen Vergessen und dem daraus resultierenden Formfehler dem Kind nicht geglaubt?!? Du bist entsetzt, empört und fragst: Wo steckt die Pädagogik?
Anderes Fach, nächste Erfahrung. Die Lehrerin bemängelt einige Knickfalten im Schnellhefter und das lückenhafte häusliche Nacharbeiten. Mit FASD sind Ordnung halten, systematisch arbeiten und die Auseinandersetzung mit schulischen Inhalten im Nachmittagsbereich so abstrus wie eine Barfußwanderung am Nordpol. Die Priorität auf ein bügelglattes Transportmedium und die Beschäftigung mit nebenfächlichen Themen außerhalb des persönlichen Interessenbereiches könnt ihr euch nicht leisten - die Energiekosten sind viel zu hoch, und ihr befindet euch sowieso stets im Minus. Du schreibst eine Mail an die Lehrerin, die du vor dem Versenden deinem Kind zeigst. Es fordert von dir, das auf keinen Fall zu schreiben, das sei unverschämt. Du versuchst zu erklären, wie du die Sache einschätzt, aber es ist unerbittlich. Also schickst du eine freundliche, sanfte Hinweismail und würdest innerlich bebend am liebsten fünfmal so dick auftragen.
Und so ließen sich zahllose Beispiele aufführen, hinter denen für dich immer die gleiche Botschaft steckt: Das Kind muss ins System passen, nicht das System zum Kind. Solange die Pädagogik von normierten jungen Menschen ausgeht, werden die, die anders sind, es immer mit zusätzlichen Felsbrocken im Weg und Ungerechtigkeiten zu tun haben. Und: Was ist ANDERS?
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